Staatstheater Wiesbaden, 25. Januar 2009
Laudatio von Wolfgang Werth

Hochlöbliches Gespann Peter Kurzeck und Klaus Sander, verehrte Anwesende!

Das Hörbuch des Jahres 2008 bringt nichts Geschriebenes zu Gehör. Es bietet eine mündliche Erzählung – und was für eine! 59 Kapitel, um nicht zu sagen: Strophen, die Peter Kurzeck vorm Mikrophon als Antworten auf Fragen und Wünsche seines Zuhörers Klaus Sander oder als Fortsetzung hinführender Vorgespräche formuliert hat, fügen sich im Hörbuch zum umfassenden, mäandernden, sich verzweigenden, nicht selten schon Erwähntes unter anderem Aspekt wiederholenden, sozusagen kreisend in sich ruhenden Ganzen. Es vergegenwärtigt den Erlebnisraum, der vor einem halben Jahrhundert die Welt des Flüchtlingskindes Peter Kurzeck gewesen war.
Staufenberg heißt der hoch über der Lahn gelegene hessische Ort, in dem der 1943 im böhmischen Tachau Geborene 1946 nach zahlreichen Zwischenaufenthalten mit seiner Mutter und seiner Schwester anlangte und den er als Jugendlicher verließ, ohne ihn je hinter sich zu lassen. Gelegentlich hat er ihn besucht, mit Bedauern die Folgen dessen registrierend, was sich da schon zu Zeit der Währungsreform angekündigt hatte: seine Verfremdung durch das Streben nach Teilhabe an materiellem Wohlstand und bequemer Funktionalität, sein Auswuchern zu einem anonymen suburbanen Konglomerat. Keine Idyllmalerei, kein sentimentales Schwelgen. Aus klarer Distanz findet der zurückblickende Erzähler wieder die Nähe zu seinem historischen Kind-Ich, und präsentiert, was es mit hellwachen Sinnen und wechselnden starken Empfindungen wahrgenommen hat. Alles wird in der Sprache konkret und durch die unermüdlich wirkende leicht hessisch gefärbte Stimme des Erzählers in einem gleichermaßen intimen und scheuen Kammerton melodiert. Zwischen den über der weithin überschaubaren Landschaft sich in wechselnden Farben wölbenden Himmeln und dem mit dem Grad der Trockenheit sich verfärbenden Straßenstaub bleibt nichts unbeachtet. Täglich sich Wiederholendes grundiert das kaleidoskopische Bild; die verschiedenartigen Umgangsweisen der Bauern mit ihren Zugvieh gehören ebenso dazu wie Geräusche der sich nähernden Lokalbahn Bimmellies und der durchbrausenden D-Züge, die in der Vorstellung des Kindes zum nie gesehenen ersehnten Meer unterwegs sind. Die im Wechsel der Jahreszeiten wiederkehrenden Erscheinungen und Epiphanien werden beschworen, vor allem die des Sommers, von dem das Kind wünscht, er möge immer bleiben mit seinen meergleich im Wind wogenden Kornfeldern, den Badefreuden im Fluss und mit der „besonderen Seligkeit“, als welche Kurzeck das Glück preist, auf hochbeladenem Heuwagen zu liegen und in Höhe der Dächer ins Dorf einzufahren. Hinzukommen kommen aberhundert kleine große Ereignisse, Unterbrechungen des Alltags, etwa die Lokalbahnfahrten über den Staufenberger Horizont hinaus, einmal sogar bis ins zwei Stunden entfernte Gelnhausen oder der Besuch bei der Tante, die ihren unvergleichlich kostbar erscheinenden böhmischen Christbaumschmuck über die Flucht gerettet hat. Ärmlichkeiten und Einschränkungen des Flüchtlingsdaseins wie die dem Kind hochwillkommene enge Nachbarschaft der im notdürftig unterteilten Großraum Untergebrachten werden ebenso wenig vergessen wie das bereichernde Neue, das von draußen ins Dorf gelangt: so der nach seiner ersten Ankunft allemal sehnlich wiedererwartete Büchereibus, dessen Angebot den Jungen freilich alsbald fürchten lässt, es werde für seinen Lesehunger nicht ausreichen. Und und und. Aber brechen wir ab. Es ist sinnlos, durch Herauspicken, Herausstellen von Einzelheiten einen hinreichenden Eindruck von ihrer Fülle und der sie wundersam integrierenden Rhapsodie geben zu wollen. Man muss sie hören.
Wesentliches, ja das Wesentliche wäre auch dann verloren, wenn dieses Hörbuch in Umkehrung des üblichen Verfahrens abgeschrieben würde und der Schrifttext als Buch herauskäme…
Aber rühmen wir nicht nur den Dichter, auch Klaus Sander sei bedankt und das nicht nur als der Kollege jenes legendären Zöllners, der dem Laotse das Buch Taoteking abverlangt hat. Zögerlich, skeptisch soll Peter Kurzeck gewesen sein, als Sander ihn in Kenntnis seines schriftstellerischen Werks und nach dem Erlebnis, wie der Autor einmal ad hoc ins Erzählen gekommen war und ein Zufalls-Publikum in Bann geschlagen hatte, für das Projekt zu gewinnen suchte, es den Wissenschaftlern gleichzutun, die Sander in seinen vorbildlichen, beispielgebenden supposé-Produktionen mündlich von ihren Forschungen erzählen lässt. Viel wurde erwogen und verworfen, und schließlich war’s so weit, dass das Experiment mit für beide Beteiligte ungewissem Ausgang beginnen konnte. 2007, während dreier April- und zweier Maitage in Klausur, entstanden die Aufnahmen. Für die Komposition des gewonnenen Materials aber war nicht Sanders Treatment fürs zu Erzählende entscheidend, sondern das Erzählte selbst. Klaus Sander hat darin den großen Bogen entdeckt, der die 59 Strophen in den bestmöglichen Zusammenhang bringt. Das Ergebnis anzuhören, das ist in der Tat „eine besondere Seligkeit“.